Was bleibt in uns, wenn Beziehungen zu früh getrennt werden

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Es gibt Erfahrungen, die wir nicht als klare Erinnerung abspeichern, sondern als innere Haltung, als eine bestimmte Art, in Beziehung zu gehen, Nähe zuzulassen oder abzuwehren, Verantwortung zu übernehmen oder sie reflexhaft an uns zu ziehen, ohne je bewusst entschieden zu haben, dass wir so sein wollen und genau diese Erfahrungen entstehen häufig dort, wo Bindungen nicht langsam auslaufen, sondern abrupt enden, entschieden von außen, begründet mit Notwendigkeit, Organisation oder Alternativlosigkeit.

Ein Mädchen sagte einmal zu mir, sie und ihre Geschwister seien voneinander verabschiedet worden, obwohl sie noch nicht einmal wussten, wie man loslässt und in diesem Satz steckt bereits alles, was meine qualitative Forschung begleitet hat: Kinder, die gezwungen werden, etwas zu vollziehen, wofür ihnen jede innere, emotionale und entwicklungspsychologische Voraussetzung fehlt, und ein System, das Entscheidungen trifft, ohne sich wirklich mit der Tiefe dessen auseinanderzusetzen, was es bedeutet, Beziehungen zu trennen, die für Kinder nicht Beiwerk, sondern Überlebensanker sind.

Ich habe diese Forschung mit Unterstützung von drei Jugendämtern durchgeführt, in ausführlichen qualitativen Interviews mit Fachkräften, die bereit waren, nicht nur ihre Einschätzungen, sondern auch ihre Unsicherheiten, Widersprüche und strukturellen Grenzen offen zu legen, weil uns eine Frage gemeinsam umgetrieben hat: Wie wird eigentlich entschieden, ob Geschwister gemeinsam oder getrennt fremduntergebracht werden und auf welcher Grundlage geschieht das wirklich, jenseits dessen, was in Konzepten, Leitlinien oder Hilfeplänen formuliert ist?

Was sich gezeigt hat, war weniger ein Mangel an Engagement oder Empathie, sondern ein strukturelles Vakuum: Es gibt bis heute keine verbindlich angewandten Instrumente, um die Qualität von Geschwisterbeziehungen differenziert zu erfassen, ihre Dynamik zu verstehen, ihre Schutz- oder Risikofunktion realistisch einzuschätzen, sodass Entscheidungen häufig unter Zeitdruck, Platzmangel oder auf Basis einzelner Gespräche getroffen werden, während die Beziehung selbst – ihre Geschichte, ihre Rollen, ihre unausgesprochenen Loyalitäten – kaum systematisch betrachtet wird.

Dabei sind Geschwisterbeziehungen keine neutrale Konstante, sondern hochkomplexe Bindungssysteme, in denen Kinder Halt finden können, aber auch überfordert werden, in denen Nähe schützt oder bindet, in denen Verantwortung geteilt oder einseitig übernommen wird, oft über Jahre hinweg, ohne dass ein Kind jemals gefragt wurde, ob es diese Rolle tragen kann oder tragen will.

In meiner Forschung wurde deutlich, dass insbesondere dort, wo ältere Geschwister früh parentifiziert wurden, also Funktionen übernommen haben, die eigentlich Erwachsenen zukämen, eine gemeinsame Unterbringung nicht automatisch Schutz bedeutet, sondern unter Umständen eine Fortsetzung der Überforderung, ein Weitertragen von Verantwortung, ein erneutes Zurückstellen eigener Bedürfnisse zugunsten eines Systems, das sich auf diese Stabilisierung verlässt.

Gleichzeitig zeigen andere Konstellationen genau das Gegenteil: Geschwister, die sich gegenseitig regulieren, sich in Krisen orientieren, sich trösten, sich an eine gemeinsame Geschichte erinnern, wenn alles andere fragmentiert ist – Beziehungen, die nicht perfekt, aber tragfähig sind, weil sie Zugehörigkeit vermitteln in einer Situation, in der sonst alles verloren geht.

Die Frage, ob eine Geschwisterbeziehung Risiko oder Schutz ist, lässt sich deshalb nicht pauschal beantworten, sondern nur in einer differenzierten Auseinandersetzung, die Rollen, Dynamiken, Bindungsqualität und die Perspektive der Kinder selbst ernst nimmt und genau diese Auseinandersetzung findet im Hilfeprozess bislang viel zu selten statt.

Was bedeutet das für die Kinder, die getrennt werden, ohne wirklich verstanden zu haben, warum, ohne gefragt worden zu sein, was sie brauchen, und ohne die Möglichkeit, diese Trennung innerlich einzuordnen? Sie verlieren nicht nur ihr Zuhause, sondern oft auch die einzige Person, die dieselben Nächte, dieselben Ängste, dieselben unausgesprochenen Regeln erlebt hat, und tragen diesen Verlust weiter – nicht als bewusste Trauer, sondern als innere Struktur.

Viele dieser Kinder werden später Erwachsene, die sich schwer tun mit Nähe oder sie überbetonen, die Verantwortung übernehmen, wo keine ist, oder sich zurückziehen, bevor jemand gehen kann, die Loyalitäten leben, die sie selbst nicht benennen können, und die sich irgendwann fragen, warum Beziehungen sich für sie so anstrengend, so unsicher oder so existenziell anfühlen.

Die Sinnsuche, die Bindungsschwierigkeiten, die innere Unruhe vieler Erwachsener haben nicht selten ihre Wurzeln in genau solchen frühen Beziehungserfahrungen, die nie erklärt, nie gewürdigt und nie integriert wurden, weil das System weiterging, der Alltag funktionierte und niemand gefragt hat, was sich im Inneren festgesetzt hat.

Ein Junge sagte einmal in einem Interview, er habe gedacht, er habe etwas falsch gemacht, weil er nicht mit seiner Schwester zusammenbleiben durfte und dieser Gedanke, diese leise, kindliche Selbstzuschreibung von Schuld, wirkt oft länger nach als jede Maßnahme, jedes Hilfeplangespräch, jede gut gemeinte Erklärung im Nachhinein.

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